ARCHIV - 23.07.2023, Ukraine, Odeasa: Kirchenmitarbeiter inspizieren die Schäden in der Verklärungskathedrale in Odessa nach russischen Raketenangriffen im Juli 2023. (zu dpa: «Ukraine-Krieg: Über 340 beschädigte Kulturstätten») Foto: Jae C. Hong/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Ukraine-Krieg: Über 340 beschädigte Kulturstätten

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"Im Krieg": Illustrierte Tagebücher aus der Ukraine und Russland

Ein Jahr lang hat sich die Illustratorin und Bestseller-Autorin Nora Krug vom Krieg in der Ukraine erzählen lassen. Ihre Berichte hat sie in dem neuen Band "Im Krieg. Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg" festgehalten.

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Wir sehen keine Gesichter, nur Kinn und Lippen. Trotzdem wissen wir: Das ist ein Bild tiefer Trauer. Drei Menschen, in den Händen brennende Kerzen, an den Schultern Hände anderer, sie geben einander Halt. Im rechten Bildrand, ebenfalls angeschnitten, ein Sarg, offen, der Verstorbenen wurde ein Kranz auf das Haar gelegt. Es ist ein kleines Mädchen, erfahren wir aus dem begleitenden Text der ukrainischen Journalistin K. Das Kind wurde bei einem russischen Raketengriff auf die Stadt Winnyzja im Südwesten der Ukraine getötet. Nora Krug zeigt, was es heißt, im Krieg zu sein.

Der Krieg im Alltag

"Mein Hauptziel ist es eigentlich, nicht über Politik zu schreiben. Sondern darüber, was die Politik für menschliche Auswirkungen hat auf uns. Weil ich glaube, dass gerade in der Geschichtsschreibung persönliche Narrative übersehen werden", sagt Krug, "wir lernen über Kriege oft Fakten und wissen gar nicht, was das für die Menschen bedeutet. Wie geht man mit dem Alltag um? Wie kann man überleben, seelisch und körperlich? Es wichtig, uns mit den Alltagsnarrativen zu konfrontieren, um zu verstehen, wie grauenhaft Krieg ist – und zu versuchen, Krieg in der Zukunft zu vermeiden."

Nora Krug lässt zwei Menschen vom ersten Jahr des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges erzählen. Zum einen die Journalistin K., die ihre Kinder nach Dänemark in Sicherheit bringt und dann, wie eine Brieftaube, fortwährend zwischen dem Exil und der Ukraine unterwegs ist – immer wieder berichtet sie auch von der Front. Zum anderen den Künstler D. aus St. Petersburg, der Putins Politik verurteilt und beständig mit der Frage ringt, ob er sein Land verlassen soll.

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"Im Krieg" von Nora Krug

Illustriertes Tagebuch

Nora Krug berichtet, dass sie mit beiden vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine bereits kurz in Kontakt war. Nach dem 24. Februar 2022 schrieb sie ihnen, fragte nach ihrem Befinden. Aus der folgenden Korrespondenz entstand die Idee, jeweils ein illustriertes Tagebuch zu schreiben und zu zeichnen. Die Chroniken, eine Seite pro Woche, stehen nebeneinander. Sie haben die gleiche Ästhetik, mit Textfeldern auf gelbem Untergrund, karteikartengleich. Sie sind aber unterschiedlich koloriert.

"Es geht nicht darum, dass ich beide Schicksale vergleiche. Es geht nicht darum, dass ich Russen als Opfer darstelle. Sondern, dass ich zeige: Es gibt einen wahnsinnigen Unterschied dazwischen, wie sie den Krieg erlebt und wie er den Krieg erlebt. Das merkt man schon ganz früh, in der Woche drei, als sie nachts wach im Bett liegt mit ihren Kindern und die Explosionen hört und Angst um das Leben ihrer Familie hat – und er darüber spricht, dass seine Kinder enttäuscht sind, weil sie nicht das neue Nintendo-Spiel kaufen können, wegen der Sanktionen gegen Russland", sagt Krug.

Sprachlos vor Verzweiflung

Eingangs sagt K., nachdem sie erfahren habe, dass der Krieg ausgebrochen sei, habe sie zuerst ein Bad genommen. Eine halbe Stunde lang habe sie einfach nur dagesessen. D. in St. Petersburg spricht von den schlimmsten Tagen seines Lebens. Putin richte sein Land zugrunde. Mit dem, was sie dann Woche für Woche berichten, nehmen beide immer wieder auch – zufällig – aufeinander Bezug. Sie erzählen vom Beginn des neuen Schuljahres für ihre Kinder oder vom ersten Silvester im Krieg. Ebenso über Ereignisse wie den russischen Raketenangriff auf Winnyzja. K. gesteht, dass sie weinen musste, als sie das Video von der Trauerfeier für das getötete Kind sah. D. spricht allgemein von den Opfern des Angriffs. Er sei angesichts der Berichte sprachlos vor Verzweiflung.

Nora Krug erzählt: "In einer Szene schreibt sie darüber, wie schwer es für sie ist, sich alleine um die Kinder zu kümmern, in Kopenhagen im Exil. Weil der Mann nicht zu ihnen kommen kann, weil er in der Ukraine bleiben muss. Und wie viel in der Wohnung kaputt ist und sie aber keine Zeit hat, das zu reparieren. Er spricht auch über Reparaturen, weil sein Wasserhahn kaputt ist. Er lebt bei seiner Familie in Sankt Petersburg zu diesem Zeitpunkt und geht in einen Baumarkt, um ein neues Rohr zu kaufen. Plötzlich guckt er sich um und denkt: Alle Leute hier in Russland sind im Baumarkt und kaufen Sachen, um ihre Häuser zu reparieren, während wir gleichzeitig die Ukraine bombardieren und deren Sachen kaputt machen."

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"Im Krieg" von Nora Krug

"Sei so mutig, wie du kannst"

Nora Krugs Buch "Im Krieg" ist Dokumentation. Die Zeichnerin hat ihre Illustrationen zurückhaltend gestaltet. Immer wieder sieht man Gesichter nur in Ausschnitten, angedeutet: Menschen, die mit dem verbrecherischen Krieg konfrontiert, die erschöpft und verzweifelt sind. Ebenso gibt es symbolische Bilder: Zum Beispiel, als K. erzählt, dass sie sich mit einem Offizier bei Cherson über die Krim unterhalten hat – sie lebte dort vor der russischen Annexion 2014. Sie habe gemerkt, dass sie sich an jeden Zentimeter ihrer Straße erinnern könne. Die Illustration zeigt ein Gesicht, die Augen geschlossen. Davor zwei Hände, mit Erde gefüllt, in der Mitte eine zarte Blume. Vor den beiden Tagebüchern hat Nora Krug Timothy Snyders Buch "Über Tyrannei" illustriert. Der amerikanische Historiker hat darin eine Ethik für die Verteidigung der Freiheit entwickelt. Der Band "Im Krieg" schließt daran auch an.

"In Timothy Snyders Buch gibt es ein Kapitel, das heißt: 'Sei so mutig, wie du kannst.'", sagt Krug, "darum geht es, glaube ich. Nicht jeder schafft es, sein Leben und seine Freiheit zu riskieren. Trotzdem gibt es Wege, auf die wir Widerstand leisten können. Auch im 'Dritten Reich' gab es Möglichkeiten zu helfen, indem man zum Beispiel Lebensmittelmarken mit jüdischen Nachbarn geteilt hat. Kleine Dinge, für die niemand ins Gefängnis gekommen wäre – und trotzdem haben es die meisten Deutschen nicht getan. Und das ist das Erschütternde daran. Deswegen ist es ganz wichtig zu wissen, dass wir eine Wahl haben und dass die Entscheidungen, die wir treffen, immer für andere Menschen auf der Welt Konsequenzen haben."

Exil und Rückkehr

Ein Jahr Krieg. Ein Jahr voller Tod, Gewalt und Schmerz. Ein Jahr der Verzweiflung. Ebenso ein Jahr der Rastlosigkeit: K. pendelt zwischen Dänemark und der Ukraine hin und her. D., der einmal bemerkt, er habe sich nach dem Ende der Sowjetunion in die Freiheit verliebt, fährt immer wieder nach Lettland. Dann reist er über Istanbul nach Paris, bekommt ein Stipendium, probt den Gang ins Exil und kehrt dann wieder nach St. Petersburg zurück. Die Erzählungen von ihm und von K., aufgezeichnet und illustriert von Nora Krug, sind unglaublich wertvolle Dokumente. K. sagt einmal, in der 27. Kriegswoche, wenn sie Leute sagen höre, die Ukraine verlange zu viel Unterstützung, fühle sie sich hilflos. Wer ihren Berichten folgt, begreift, wie fatal es wäre, das Land im Stich zu lassen – und zu verraten.

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