Der Söldnerführer in Afrika
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Jewgeni Prigoschin bei seinem letzten öffentlichen Auftritt

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Aufruhr um Prigoschins Tod: "Putins Garantien keinen Cent wert"

Ein Flugzeug stürzt auf einem Feld in der russischen Region Twer ab, auf der Passagierliste: Jewgenij Prigoschin, der Chef der Söldnergruppe Wagner. War es ein Unfall? Kommt es nun zu einem neuen Aufstand? Die Gemüter sind erhitzt.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Jetzt wird sich die Lage chaotisch entwickeln. Möglicherweise steht uns bald ein Machtwechsel bevor", raunen russische Ultrapatrioten und manche fantasieren schon, dass die Beerdigung von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin ein Fanal werden könnte, bei dem sich Tausende von Nationalisten gegen den Kreml wenden. Die "Verräter Russlands" hätten den schlagzeilenträchtigen Privatarmeebetreiber und Kreml-Kritiker auf dem Gewissen, hieß es wutschnaubend auf dem Wagner-nahen Blog "Grey Zone" und an anderer Stelle ebenso unheilverkündend: "Dieser Tag wird in die russische Geschichte eingehen. Große Veränderungen stehen bevor." Gerüchte, wonach das Handynetz am Wagner-Standort in Belarus abgeschaltet und die russische Nationalgarde eilig in Alarmbereitschaft versetzt worden sein soll, sprechen für höchste Nervosität in Putins Regierungszentrale. Gründe dafür gibt es reichlich.

Schon wird spekuliert, die überlebenden Wagner-Kommandeure könnten schwer kompromittierendes Material gegen Putin auf den Markt werfen, dafür habe Prigoschin zu Lebzeiten gesorgt. Der Präsident selbst sei jetzt nur noch eine "lahme Ente": "Putin gab Prigoschin klare Garantien. Sie hielten zwei Monate. Damit ist Putin kein Garant mehr für sein Wort. Quellen zufolge delegitimiert die Ermordung Prigoschins den Status des Präsidenten." Die Garantien von Putin und dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko seien gleichermaßen "keinen Cent" mehr wert.

"Geschenk zum ukrainischen Unabhängigkeitstag"

Der kremlnahe Politologe Sergej Markow sprach unmittelbar nach dem Flugzeugabsturz von "Mord" und witterte einen "Terroranschlag" westlicher Geheimdienste pünktlich zum Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August: "Alle Feinde Russlands freuen sich", so sein Fazit zum Tod von Prigoschin in der Nähe von Twer, nur fünfzig Kilometer von Putins Residenz Waldai entfernt. Um seine steile These zu belegen, argumentierte Markow: "Die Bestätigung, dass Prigoschin nicht von russischen, sondern von ukrainischen Sonderdiensten in die Luft gesprengt wurde, ist, dass nicht nur Prigoschin und [Wagner-Gründer] Utkin getötet wurden, sondern auch andere Passagiere, darunter unschuldige Piloten. Die russischen Sonderdienste hätten den Russen das niemals angetan. Die ukrainischen Sonderdienste können leicht jeden töten. Sie versprachen der Ukraine ein Geschenk zum Unabhängigkeitstag – und sie lieferten es."

Blogger Igor Korotschenko schrieb ebenfalls ohne jeden Beweis: "Im Auftrag des Nationalen Sicherheitsrates der USA wurden die amerikanischen Geheimdienste und das Pentagon damit beauftragt, den aktuellen Standort und alle Bewegungen des Chefs der Wagner Private Military Company Jewgeni Prigoschin zu verfolgen." Diese sehr voreilig anmutenden Blogs täuschten allerdings darüber hinweg, dass vor allem der Kreml selbst ein Interesse am Ableben von Prigoschin haben könnte, allen voran Wladimir Putin persönlich: Schließlich galt ihm die Rebellion vom 24. Juni, die die Wagner-Leute angezettelt hatten. Dass der Absturz des Privatjets auf den Tag zwei Monate später erfolgte, hielten nicht alle für "Zufall", und die ziemlich abseitige These, der Westen habe Prigoschin ausgeschaltet, ist in Russland alles andere als mehrheitsfähig.

"Zwei laute Knallgeräusche"

Wilde Gerüchte dominierten zunächst die russischen Nachrichtenagenturen und Blogs, weil es keinerlei behördlich bestätigte Fakten gab: Demnach stürzte eine Embraer Legacy 600-Maschine in der Nähe von Twer ab. Das als ausgesprochen sicher geltende Flugzeug wurde regelmäßig von der Söldnertruppe Wagner benutzt. Die staatliche Nachrichtenagentur TASS meldete unter Berufung auf Daten der russischen Luftfahrbehörde, auf der Passagierliste sei Privatarmee-Chef Jewgeni Prigoschin gewesen. Ob auch der Anführer der militärischen Sparte und Wagner-Gründer Dmitri Utkin an Bord war, war zunächst nicht bekannt, wurde aber im Nachhinein bestätigt. Was den Absturz verursacht hat, ist ungeklärt. Blogger spekulierten über ein Bomben-Attentat oder auch über ein "Versagen" der Luftabwehr, die das Flugzeug irrtümlich vom Himmel geholt haben könnte. Augenzeugen wollten "zwei laute Knallgeräusche" vor dem Absturz gehört haben.

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Absturzstelle der Embraer

"Zu symbolisch, um ein Unfall zu sein"

Der russische Parlaments-Abgeordnete Jewgeni Popow sagte: "Das ist ein Terroranschlag am russischen Himmel. Er muss untersucht werden. Die Täter müssen sich verantworten." Blogger Jegor Jerschow schrieb: "Unabhängig davon, ob Prigoschin noch lebt oder nicht, werden potenzielle neue Rebellen ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Und nein, das bedeutet nicht, dass es keine Rebellen mehr geben wird. Das Vorbild Dschugaschwili [Stalin] ist hier äußerst bezeichnend." Ein weiterer Blogger meinte: "Solche Unfälle passieren in Russland nicht. Es ist wie bei der Mafia, wenn jemand einem Abtrünnigen die ganze Schuld gibt, ist sein Gegner fortan die gesamte Mafia, und nachts töten sie ihn. Es sieht zu symbolisch aus, um ein Unfall zu sein."

"Sehr große Veränderungen im Machtsystem"

Ungeachtet der anfänglich fragilen Faktenlage entbrannte im russischsprachigen Netz sofort eine heftige und düstere Debatte: "Der Aufstand von Prigoschin ist vorbei. Und alles fängt gerade erst an. Das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation hat sich gleichzeitig in beide Beine geschossen. Auch wenn sie es dort noch nicht merken", so Blogger Stanislaw Belkowski. Ein weiterer Diskutant schrieb: "Sollte sich der Tod von Prigoschin bestätigen und die Ursache des Flugzeugabsturzes als Terroranschlag oder Zerstörung durch Luftverteidigungssysteme bezeichnet werden, wird der russische Teil der Telegram-Blogs unverzüglich die Namen der beiden Hauptverdächtigen nennen [Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow]. Es kann durchaus sein, dass dieser Fall zum Auslöser für große personelle Veränderungen im russischen Machtsystem wird. Sehr großen."

Es sei "gefährlich", in Russland Patriot zu sein, bemerkte ein Nationalist, ein weiterer warnte: "Die Ermordung Prigoschins hätte katastrophale Folgen. Die Auftraggeber verstehen die Stimmung in der Armee und deren Moral überhaupt nicht." Der rechtsextreme "Philosoph" Alexander Dugin gab sich wie üblich grimmig: "Generell hatte die Wagner-Gruppe eine besondere Einstellung zum Tod. Es war üblich, ihm ins Gesicht zu schauen. In unserer Hölle waren sie wirklich die Besten."

"Unmöglich, den Krieg zu gewinnen"

Ähnlich apokalyptisch hieß es in einem weiteren Blog: "Ein solches Ende der Rebellion von Jewgeni Prigoschin zieht einen Schlussstrich unter die Spezialoperation. Danach wird es nicht mehr möglich sein, den Krieg ernsthaft fortzusetzen. Etwas am System ist völlig kaputt, etwas Anständiges und Soldatisches. Ohne das ist es unmöglich, den Krieg zu gewinnen. Aber sie können weiterhin Ressourcen verschwenden. Auf der symbolischen Ebene zieht alles, was gerade passiert, endgültig einen Schlussstrich unter einer bestimmten Ära des russischen Staates."

Die Wagner-Kommandeure würden eine Videobotschaft versenden, sobald sie Klarheit über Prigoschins Schicksal hätten, hieß es. Eine Krisensitzung sollte die ganze Nacht andauern. Einer der Netzkommentatoren spekulierte über ein abermaliges Zerwürfnis im Putin-Führungskreis: "Niemand kennt den Kern der Vereinbarungen [des Kremls] mit Prigoschin vom 24. Juni. Eines ist klar: Der Grund für das, was heute passiert ist, war, dass eine der Parteien beschlossen hat, diese Vereinbarungen nicht zu erfüllen."

"Wer vergiftet Putin?"

In Leserforen begann ein erbitterter Kampf um die Deutungshoheit: "Gut gemachte Luftverteidigung. Den Himmel von Trümmern befreit. Um die Piloten ist es natürlich schade, aber es ist kostspieliger, einen Verräter zu befördern." Ein russischer Leser fühlte sich an den Röhm-Putsch der Nazis erinnert, als Hitler 1934 einen seiner gefährlichsten innerparteilichen Gegner und dessen Kumpane beseitigen ließ. Ein weiterer Leser der St. Petersburger Zeitung "Fontanka" fragte: "Wer wird jetzt Putin vergiften?" Ein Kommunist meinte: "Zu unserer Sowjetzeit gab es keine Privatflugzeuge. Die Menschen lebten wie Menschen. Sie verehrten Lenin und Karl Marx."

Der Söldnerführer hatte einen Aufstand gegen Putin versucht, der jedoch bereits nach einem Tag gescheitert war. Seitdem war darüber diskutiert worden, warum Putin seinen Gegner nicht inhaftieren ließ. Prigoschin und seinen Leuten war ein neues Quartier in Belarus zugewiesen worden. Dort jedoch soll es Konflikte mit dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko gegeben haben, weil der nicht bereit gewesen sein soll, die Truppe anstelle des Kremls zu finanzieren.

"Politik der offenen Fenster"

Im Juli, also nach der Rebellion von Ende Juni, hatte US-Außenminister Antony Blinken dem Fachportal Politico zufolge bei einer Tagung in Aspen gesagt: "An Prigoschins Stelle wäre ich sehr besorgt. Die NATO verfolgt eine Politik der offenen Tür, Russland eine Politik der offenen Fenster." Eine Anspielung darauf, dass mehrere russische Spitzenmanager tot vor ihren Wohnungen aufgefunden wurden, wobei die Behörden jeweils von "Suizid"-Versuchen ausgegangen waren.

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