Die Schauspieler Christina von Golitschek und Kai C. Moritz geben Missbrauchsbetroffenen auf dem Kirchentag eine Stimme.
Bildrechte: BR/Veronika Wawatschek

Die Schauspieler Christina von Golitschek und Kai C. Moritz geben Missbrauchsbetroffenen auf dem Kirchentag eine Stimme.

Per Mail sharen
Artikel mit Bild-InhaltenBildbeitrag

"Oje" – Kirchentag versucht das Thema Missbrauch anzugehen

Debattieren, beten, fröhlich sein – der Kirchentag versteht sich als Fest des Glaubens. Es könnte so schön sein, wäre da nicht ein Thema, mit dem sich die evangelische Kirche bis heute schwer tut: Missbrauch und sexualisierte Gewalt.

Über dieses Thema berichtet: Theo.Logik am .

"Oje, oje, es stimmt also", das habe sie oft gehört, wenn sie Freunden von diesem Podium "Missbrauch beim Namen nennen" erzählt habe, sagt die Moderatorin, als sie auf die Bühne tritt an diesem Samstagnachmittag. Die Reihen in Halle 4a auf dem Nürnberger Messegelände sind dünn besetzt. Einige haben sich zum Schlafen oder Ausruhen auf die Papphocker in der riesigen Messehalle gesetzt. Andere schauen kurz vorbei und gehen gleich wieder.

"Evangelisch" ist rot geschrieben

Ein Mann hält ein Schild vor sich hoch: "Mahnwache für die Opfer sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche" ist darauf zu lesen. "Evangelisch" ist rot geschrieben. Michael Fleischmann heißt der Mann, er hat selbst sexualisierte Gewalt in einem Heim der Rummelsberger Diakonie erlebt.

Und mit "oje" möchte man auch den Versuch des Kirchentages überschreiben, irgendwie mit dem Thema Missbrauch in der evangelischen Kirche umzugehen. Geht doch so vieles in diesen zwei Stunden vorbei an dem, was Betroffene wie Michael Fleischmann sich wünschen. Er sagt, er habe in den sechs Jahren Therapie gelernt, dass der Täter ein kranker Mensch gewesen sei. Womit er aber nicht klarkomme, "was mich auffrisst und was mich kaputt macht", sei der Umgang damit. Gemeint ist der Umgang der evangelischen Kirche mit den Missbrauchsbetroffenen.

Betroffene fühlen sich weiterhin als "Bittsteller"

Er habe zwar Anerkennungsleistungen von der evangelischen Kirche bekommen, die seien aber viel zu gering, um eine komplett zerrüttete Erwerbsbiografie aufzuwiegen. Vieles dauere zu lang. Betroffene seien auf sich allein gestellt, müssten noch immer für ihr Recht auf Entschädigung und Anerkennung des Leids kämpfen, bestätigt Nancy Janz von der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD): "Das ist etwas, was ich als Betroffenenvertretung sehr oft höre: 'Wir sind hier als Bittsteller, wir müssen immer wieder an die Türen klopfen. Warum tut ihr eigentlich nichts?'"

Problemstellung in der evangelischen Kirche

Verantwortung übernehmen und erst mal vor der eigenen Haustüre kehren, das fordert Martin Wazlawik von der evangelischen Kirche. Der Professor für soziale Arbeit beschäftigt sich im Auftrag der EKD mit der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und sieht hier noch große Defizite. Wenn etwa Kirchentagspräsident Thomas de Maiziere in einem aktuellen Zeitungsinterview darauf verweise, dass es in der evangelischen Kirche nicht die gleichen Machtstrukturen wie in der katholischen Kirche gebe, sei das problematisch, so Wazlawik. Diese Argumentation verkenne, dass es vielleicht auch in der evangelischen Kirche eine Problemstellung gebe, die vielleicht noch gar nicht bekannt sei.

Vergleich mit katholischer Kirche möglich?

Auch den Verweis auf niedrigere Fallzahlen als in der katholischen Kirche hält Wazlawik für Ablenkung. Schließlich kenne niemand die tatsächlichen Betroffenenzahlen, eine Dunkelfeldstudie gebe es nicht. Eine solche werde man demnächst auf den Weg bringen, kündigt der religionspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Lars Castellucci an und zeigt sich gleichzeitig selbstkritisch: "Noch mal die Frage: Haben wir genug getan? Und da muss ich doch sagen, politisch reicht das nicht. Und das heißt, wir sind etwa weiter in der Verantwortung."

Politik und Kirche einig: Kirche kann Aufarbeitung nicht allein

Die Politik dürfe die Kirche nicht allein lassen in der Aufarbeitung des Geschehenen, so Castellucci. Kirchenvertreterin Dorothee Wüst nimmt dieses Angebot als Sprecherin der Beauftragten im Beteiligungsforum dankbar an: "Ich bin ziemlich nah bei Ihnen, wenn ich sage, uns als Kirche ist auf jeden Fall gedient, wenn es klare Rahmenbedingungen gibt." Gerade in föderalen Strukturen sei es einfacher, je präziser die Vorgaben seien.

Wer trägt die Verantwortung?

Ist es gerade die Vielstimmigkeit der evangelischen Kirche, die verhindert, dass jemand Verantwortung übernimmt für das Geschehene?

Auf dem Podium werden Texte Betroffener vorgelesen – man will ihnen eine Stimme geben. Michael Fleischmann, der bis heute mit seiner Kindheit als Heimkind kämpft, kann bei diesen Erfahrungsberichten seine Tränen kaum mehr zurückhalten.

Und dass Kirchentagshelfer unbesetzte Papphocker abbauen, als die Diskussion gerade erst beginnt, scheint fast sinnbildlich, für den Umgang der evangelischen Kirche mit dem Thema Missbrauch.

Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.

"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!